Die allermeisten Menschen sterben in einem sehr ruhigen, friedlichen Prozess.
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Interview
Was Sterbende brauchen
Herr Rechenmacher, wenn ein Mensch in den Sterbeprozess eintritt, was passiert da in seinem Körper?
Es gibt ein biologisches Grundprogramm, das nicht beeinflusst werden kann, das bei den meisten Menschen so oder ähnlich abläuft. Es fängt mit unspezifischen Symptomen an: Der Mensch wird müde, hat weniger Interesse an seiner Umwelt, wird kraftlos, er zieht sich zurück, ohne dass es eine behebbare Ursache gäbe. Wenn jemand eine schwere Lungenentzündung hat, geht er auch auf die Couch, aber das ist behebbar. Beim Sterben ist es so, dass der Körper an einem Punkt angelangt ist, wo dieser Prozess unumkehrbar ist. Er ist nicht mehr aufzuhalten.
Die allermeisten Menschen sterben in einem sehr ruhigen, friedlichen Prozess.
Palliativmediziner Michael Rechenmacher
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Was läuft rein physiologisch im Körper ab?
Alles wird einfach immer weniger, Essen und Trinken, der Mensch kann weniger. Er will mehr Rückzug und Ruhe, mehr schlafen, mehr im Bett liegen, ist mehr auf Hilfe angewiesen, weil er die Dinge nicht mehr selbst erledigen kann. Späte Anzeichen des Sterbeprozesses sind, dass der Kreislauf zentralisiert, die Hände und Füße kalt werden, man kann den Puls in der Peripherie nicht mehr gut tasten, auch die Urinproduktion lässt nach. Irgendwann ist es mehr oder minder ein Einschlafen. Irgendwann tritt dann der Kreislaufstillstand ein.
Wann ist jemand tot?
Es gibt verschiedene Definitionen von Tod. Der klinische Tod tritt ein, wenn der Herz- und Kreislaufstillstand eingetreten ist. Als Zweites tritt der Hirntod ein. Das passiert einige Minuten später. Wenn das Hirn keinen Sauerstoff mehr hat, stirbt es irreversibel ab. Das nennen wir Individualtod. Wenn das Hirn komplett in seiner Aktivität erloschen ist, dann gilt jemand als medizinisch sicher tot. Ab diesem Zeitpunkt ist theoretisch eine Organspende möglich. Sichere Todeszeichen sind Totenstarre, Totenflecken, wobei das Totsein schon früher eintritt. Der biologische Tod wäre, wenn die letzte Zelle verschwunden ist. Auch das ist ein Prozess. Gewisse Zellen wie zum Beispiel die Hornhaut können viele Stunden, Tage nach dem biologischen Tod noch vital sein. Darum kann man Hornhauttransplantationen noch im fortgeschrittenen Stadium machen.
Wie erleben Sie Menschen in ihrer Sterbephase?
Das ist so individuell, wie die Menschen selbst sind. Es ist nicht in Phasen einteilbar. Auch wie viel jemand noch am äußeren Leben teilhaben mag oder nicht, ist sehr unterschiedlich. Es gibt Menschen, die Angst haben, am Schluss nichts mehr mitzubekommen und sich nicht mehr äußern zu können, sodass andere entscheiden müssen. Aber die meisten Menschen sind relativ lange bis wenige Stunden vor dem Tod wach. Sie schlafen viel, aber zwischendurch können sie ihre Wünsche und Befindlichkeiten äußern.
Und wenn der Sterbende sich nicht mehr artikulieren kann …
… dann haben wir trotzdem von außen Hinweise, aus denen wir schließen können, ob es ihm gut geht oder nicht. Die Mimik zum Beispiel oder vegetative Funktionen, ob jemand schwitzt oder wie jemand atmet, angespannt oder entspannt. Das sind Dinge, die wir relativ gut einschätzen können.
Wie reagieren Sie, wenn jemand Schmerzen oder Angstzustände hat?
Die allermeisten Menschen sterben in einem sehr ruhigen, friedlichen Prozess. Es gibt einige körperliche Symptome, die auftreten können, wie Schmerzen, Atemnot, Angst oder Verwirrtheitszustände in der späten Phase. Eine hörbare Veränderung der Atmung ist zum Beispiel die Rasselatmung, das sind Schleimfäden im Rachen, die wir abhusten würden. Das kann der Sterbende in der Phase nicht mehr, aber es stört ihn nicht. Für den Außenstehenden, der am Bett sitzt, ist das eher unangenehm, aber sicher nicht für den Sterbenden. Die anderen Symptome können wir sehr gut behandeln. Die meisten Menschen brauchen nicht viel medizinische Begleitung beim Sterben. Etwa 20, vielleicht 25 Prozent der Sterbenden haben deutliche Belastungen, weil sie schwer krank sind. Das sind nicht nur Tumorpatienten. Es kann eine schwere Herzinsuffizienz sein oder ein anderes Organversagen. Dafür gibt es die spezialisierte palliative Versorgung.
Welche Medikamente geben Sie in solchen Fällen?
Niemand muss am Lebensende leiden, auch wenn die Erkrankung schwere Auswirkungen hat. Wir haben heute Medikamente, die extrem wirksam gegen Schmerz sind, aber extrem nebenwirkungsarm und gut verträglich. Die moderne Medizin schafft es, auch komplexe Beschwerden so zu behandeln, dass es nicht zulasten des Geistes gehen muss. Viele Menschen haben das Bedürfnis, auch im Sterben möglichst lange wach zu sein, um Kontakt mit den Menschen halten zu können. Wir kriegen heute die Symptome unter Kontrolle bei einem vertretbaren Nebenwirkungsprofil.
Bei der Geburt tut man alles, damit das Kind einen guten Start ins Leben hat. Beim Sterben fehlt das irgendwie.
Palliativmediziner Michael Rechenmacher
Was beschäftigt Menschen, die im Sterben liegen, und wie gehen Sie als Palliativmediziner darauf ein?
Es ist nicht nur das Körperliche, das man im medizinischen Bereich natürlich als Erstes adressieren wird. Jemand kann auch auf der psychischen Ebene Belastungen haben, etwa Angst. Es betrifft auch das soziale Miteinander, auch die Zu- und Angehörigen sind von den Erkrankungen und dem Sterben mitbetroffen. Es gibt auch die spirituelle Dimension, die großen Fragen des Lebens betreffend. Das sind die vier Säulen, die wir in der Palliativversorgung adressieren. Wir fragen nach und kommen ins Gespräch und je nachdem, was der Auslöser ist oder vielleicht Verstärkung für Angst, können wir jenseits der Medikamente mit menschlicher Zuwendung bis hin zu anderen Therapieformen ansetzen und unterstützen.
Wie wichtig ist die menschliche Zuwendung im Sterbeprozess? Auch das ist individuell unterschiedlich. Die Spannbreite reicht von Alleinsein-wollen bis »Jemand soll im Zimmer sein«, die Familie um sich haben wollen oder von Ruhe bestimmte Musik, Gerüchen, die jemand braucht. Der Sterbende ist die Richtschnur. Was er braucht, darauf stellen wir uns ein. Auf einer Palliativstation gibt es die Möglichkeit, dass Angehörige rund um die Uhr da sind.
Haben Sie den Eindruck, Menschen können heutzutage besser miteinander über den Tod sprechen?
Es ist oft so, dass die Kultur des Darübersprechens überhaupt nicht existiert. Manchmal können nicht einmal Ehepartner miteinander oder Kinder mit den Eltern darüber reden. Es ist ein schwieriges Thema. Aber wenn die Leute dann gesprochen haben, ist auf beiden Seiten, sowohl beim Patienten als auch bei den Angehörigen, eine Erleichterung zu spüren. Wir haben Leute hier, die sind im fortgeschrittenen Erwachsenenalter und haben noch nie jemand sterben sehen.
Erstaunlicherweise nimmt das Thema assistierter Suizid gesellschaftlich einen riesigen Raum ein, die Begleitung eines sterbenskranken Menschen aber wenig. Man könnte also sagen: Bei der Geburt tut man alles, damit das Kind einen guten Start ins Leben hat. Beim Sterben fehlt das irgendwie. Dabei könnte man argumentieren, dass eine gute Palliativversorgung mindestens genauso wichtig ist, damit das Leben ein gutes Ende findet.
Was sagen Sie, wenn Sterbende Sie fragen, wie lange sie noch zu leben haben?
Wir haben einige klinische Anzeichen, wie weit die Erkrankung fortgeschritten oder ob jemand stark abgemagert ist oder bestimmte Laborwerte, die mit einer höheren Wahrscheinlichkeit des baldigen Sterbens zusammenhängen. Es gelingt uns schon, Kombinationen an medizinisch-biologischen Veränderungen mit gewissen Wahrscheinlichkeiten zu korrelieren. Aber das ist nur statistisch. Wir können bis heute keine gute Individualvorhersage machen. Menschen, von denen wir glauben, sie haben nur wenig Zeit, haben dann überraschenderweise mehr Zeit als wir es prognostiziert haben, aber auch umgekehrt.
Muss man im Sterbeprozess loslassen können?
Es gibt gewisse Muster, die wir erkennen können: ob es jemand wahrhaben kann, dass es jetzt ans Sterben geht. Verleugnung und Verdrängung, das findet man schon. Dass es ein echter Prozess wäre, und am Schluss kommt die Akzeptanz? Das ist nicht die Realität! Es gibt Menschen, die können es annehmen, aber manche können es bis zum letzten Atemzug nicht akzeptieren, dass sie jetzt sterben müssen. Das hängt auch nicht damit zusammen, ob jemand religiös geprägt ist oder nicht. Das ist ein Klischee der Palliativmedizin: Alle sterben händchenhaltend und versöhnt. Das gibt es manchmal, manchmal aber auch nicht.
Kann die Medizin den Todeszeitpunkt vorhersagen?
Wir können es nicht. Wir können die Phänomene von außen beschreiben und rückblickend sagen, da hat es begonnen. Wir sind in der aktuellen Beobachtung sicherer als am Tag zuvor zum Beispiel. Aber wir haben keine Laborwerte, die wir messen und dann sagen könnten, es gehe zu Ende. Die biologische Frage würde mich als Naturwissenschaftler schon interessieren. Was die philosophische Frage betrifft: Vielleicht ist es gut, dass wir es nicht können. Da ist ein Momentum, das wir nicht beeinflussen und nicht erfassen können.
So oft am Sterbebett gesessen: Je eine Seele gesehen?
Man kann es nur von außen beobachten. Was innen drin passiert oder auch danach, ob es eine Seele gibt oder nicht, das kann auch ich nicht beurteilen. Ich weiß es nicht.
Was ist für Sie das Wichtigste am Lebensende?
Eine Grundkonstante ist menschliche Zuwendung, Geborgenheit und Vertrauen. In der öffentlichen Debatte ist es interessanterweise immer die Autonomie, die Selbstbestimmtheit, die als wichtig diskutiert wird. Sicher ist das am Lebensende ein zentrales Gut, aber für die Betroffenen steht es oft nicht mehr auf Platz eins. Sondern für sie ist es wichtig, sich geborgen zu fühlen, zu wissen: Da kümmert man sich um mich, und das so, wie es meinen Vorstellungen entspricht. Das ist oft viel entscheidender.
Was würden Sie sich für Ihren eigenen Tod wünschen?
Eine schwierige Frage. Wahrscheinlich nicht unbedingt einen plötzlichen Tod. Ein bewusstes Abschiednehmen eher. Aber ob man das wirklich schon so beurteilen kann, ich weiß es nicht sicher. Ich wüsste, was mir an Rahmenbedingungen vielleicht wichtig wäre, welche Musik ich hören würde. Ich würde auch einen guten Rotwein trinken. Ob es dann so kommt, weiß man nie. Aber das Entscheidende ist letztlich das Gefühl, es kümmert sich jemand um mich in meinem Sinne.
Wollten Sie alleine sein oder sollte Ihnen jemand die Hand halten?
Ich glaube, das kann man vorher nicht wissen.
Michael Rechenmacher
Leiter interdisziplinäre Palliativmedizin am Universitätsklinikum Regensburg.
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15.10.2024
Gabriele Ingenthron