"Von den Emotionen gibt es am Lebensende nichts, was es nicht gibt. "
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Abschiede leben
Was Sterbende bereuen, glauben und hoffen
Zwei ehrenamtliche Sterbebegleiterinnen berichten Stephanie Wossilus (50) besucht Sterbende zuhause, Patricia Lintl (54) steht Sterbenden im Hospiz bei.
Warum haben Sie sich für dieses Ehrenamt entschieden?Wossilus: Auschlaggebend war für mich, als mein Vater 2012 im Krankenhaus innerhalb von zwei Wochen an einer Krebserkrankung gestorben ist. Im Nachhinein empfand ich es als Glück, die letzten acht Stunden an seiner Seite zu sein, aber ich war auch sehr hilflos in dieser Situation. Ich wusste nicht, wie ich mich richtig verhalte und was er eigentlich braucht. Mich hat die Frage sehr bewegt, wie das eigentlich ist, wenn jemand am Ende seines Lebens ganz allein ist. Der nächste Schritt war ein Einführungsseminar beim Christophorus Hospiz Verein – und bald dann das Vertiefungsseminar. Es ist ja nicht so, dass man morgens aufwacht und sagt, ich werde mal Hospizhelferin. Ich sage immer, dieses Ehrenamt hat mich gefunden.
Lintl: Das Thema Tod hat mich schon als Kind interessiert, wenn Großtanten oder Großeltern gestorben sind. Da wurde man damals außen vorgehalten, die waren dann einfach tot, nicht mehr da. Ich wollte immer wissen, was sie hatten und warum sie gestorben sind. Hospizhelferin wurde ich, als meine ehemalige Chefin schwer an Bauspeicheldrüsenkrebs erkrankte. Als sie zur Sterbehilfe in die Schweiz fahren wollte, habe ich mich mit ihr unterhalten und von den Möglichkeiten erzählt, wie man würdevoll und schmerzfrei sterben kann. Für mich war das der Auslöser für eine Ausbildung zur Sterbebegleiterin.
"Ich fühle mit den Menschen, aber ich leide nicht mit ihnen mit."
Stephanie Wossilus
Tod und Sterben sind im Hospiz gegenwärtig. Wie groß sind für Sie die psychischen Belastungen?
Wossilus: Ich fühle mit den Menschen, aber ich leide nicht mit ihnen mit. Wenn es mich belasten würde, dann würde ich es nicht mehr machen, weil es dann auch nicht das Richtige für mich wäre. Natürlich gibt es Situationen, die einem nachgehen. Da hilft natürlich, wie der Christophorus Hospiz Verein für seine Mitarbeitenden da ist. Wir haben immer Ansprechpartner und Möglichkeiten der Supervision. Im persönlichen Umfeld kann man nicht mit jedem gut über das Thema Tod und Sterben reden. Aber eben mit denen, die das als Ehrenamt machen.
Lintl: Ich sehe wirklich viel Leid im stationären Bereich, abgemagerte Menschen am Ende ihres Lebens. Das berührt mich schon. Aber ich gehe nach meinem wöchentlichen Einsatz nach Hause und denke nicht mehr drüber nach. Man kann nicht die ganze Woche drüber nachdenken, wie geht es der Person jetzt? Lebt sie noch, hat sie noch Schmerzen? Ich kann mich da gut abgrenzen. Betrifft es meine eigene Familie, ist das ganz anders.
Bekommen Sie in konkreten Situationen Hilfe?
Lintl: Ja, in Situationen, in denen ich nicht klarkomme. Wenn sich zum Beispiel jemand in meiner Gegenwart übergibt, dann habe ich Pflegekräfte, die mich unterstützen.
Wossilus: Das ist im ambulanten Bereich ein bisschen anders, weil ich ja eine Person über einen langen Zeitraum betreue und diesem Menschen dann natürlich auch näher bin. Da gibt es schon auch Situationen, wo man viel mitfühlt. Aber Gott sei Dank habe ich es bisher immer geschafft, gut damit umzugehen.
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Wann ist es für kranke Menschen Zeit, ins Hospiz zu gehen?Wossilus: Oft rufen schwer kranke Menschen beim Hospiz an und erkundigen sich, weil sie das selbst nicht wissen. Es ist in der Regel final, wenn man ins Hospiz geht, damit haben natürlich viele Menschen ein Problem.
Lintl: Der Leitsatz lautet, das stationäre Hospiz steht Menschen offen, die unheilbar krank sind und deren Leiden so weit fortgeschritten sind, dass ihre Lebenserwartung voraussichtlich nur noch wenige Monate beträgt.
Wer also ins Hospiz geht, weiß, dass er in seine letzte Lebensphase eintritt?
Wossilus: Für das stationäre Hospiz gilt das fast ausnahmslos. Aber wir haben ja vorher noch die ambulante Hospiz Versorgung zu Hause. Die kann auch viel früher einsetzen. Es kommt auch vor, dass Menschen bereits nach einer schlimmen Diagnose vom Hospizdienst betreut werden.
Kommt es vor, dass jemand aus dem Hospiz nach Hause entlassen wird?
Lintl: Wir hatten schon Bewohner, die bei uns im Hospiz entlassen wurden, weil die Krankheit stagnierte. Es gab auch schon Fälle, bei denen wir gedacht haben, die haben nur noch wenige Tage zum Leben. Die haben sich dann aber bei uns erholt, weil sie von allem losgelöst sind. Manche wurden tatsächlich nach Hause entlassen, die Krankheit war aber immer noch da. Das ist aber sehr selten.
Wie lange dauert eine Betreuung im Durchschnitt?
Lintl: Im stationären Bereich waren es im vergangenen Jahr durchschnittlich 25 Tage.
Wossilus: Ich hatte Betreuungen, wo ich vielleicht ein, zwei Besuche gemacht habe, dann sind die Patienten verstorben, und ich hatte Menschen, die ich über ein Jahr betreut habe. Das kommt immer auf die Schwere der Krankheit an und wie sie verläuft.
In welchen Gefühlslagen sterben Menschen? Dankbarkeit, Zorn, Angst - welche Gefühle oder Emotionen nehmen Sie wahr?
Wossilus: Von den Emotionen gibt es am Lebensende nichts, was es nicht gibt. Ich hatte eine Frau betreut, die sagte, ich kann jetzt noch nicht sterben, weil ich ja nach dem Tod meines Mannes gerade erst angefangen habe, das Leben zu führen, das ich eigentlich wollte. Mehrfach erlebe ich, dass Sterbende mit traumatischen Kindheitserfahrungen hadern. Sie sehen darin die Ursache, dass ihr Leben nicht gut verlaufen ist. Da erlebe ich schon auch Menschen, die in sich eine Wut tragen.
Lintl: Ich hatte einmal einen Mann begleitet, der war Rechtsanwalt und wollte im Hospiz einen Fall noch unbedingt zu Ende bringen. Er hat gemerkt, er schafft das körperlich nicht mehr, er kriegt es nicht zu Ende. Das hat ihn unheimlich beschäftigt, er wurde fuchsteufelswild und wollte, dass ein bestimmtes Schreiben noch aufgesetzt wird. Aber es ging einfach nicht mehr. Genauso gibt es Menschen, die mit innerer Ruhe loslassen können. Sie haben ihr Leben gelebt, ein schönes Leben, und haben geklärt, was zu klären war.
Wossilus: Wichtig ist: das Leben darf auch fragmentarisch bleiben. Man kann nicht davon ausgehen, dass man am Schluss noch alles regeln kann.
Wie ist es, wenn familiäre Konflikte nicht gelöst sind? Bereuen das Sterbende?
Lintl: Eine Bewohnerin hatte in ihren letzten Stunden immer wieder nach ihrer Mutter geschrien. Sie hat die Hände nach oben gerichtet und geweint. Das mit anzuhören, hat mich schon sehr berührt.
Wossilus: Bei zwei meiner Fälle waren Erfahrungen von Gewalt und Missbrauch bis zum Schluss ein großes Thema. Beide waren um die 50 und haben mit ihrer schweren Erkrankung sehr gehadert: Warum trifft es mich? Ich glaube, dass solche Vorgeschichten im normalen Alltag nicht diese Präsenz haben, da geht es rund um die Uhr um die Arbeit und die Familie. Erst während der Behandlung haben viele zum ersten Mal wirklich Zeit, sich damit auseinanderzusetzen. Dann kommen solche Dinge hoch. Wut und Groll auf den Chef hatte ich auch schon erlebt. Aber das andere gibt es eben auch: Sterbende, die versöhnt sind und sagen, es passt so jetzt alles. Oder die sagen, dass einige Dinge nicht so gelaufen sind, aber es war trotzdem in Ordnung.
Bereuen Menschen in der letzten Lebensphase, dass sie ihr Leben zu wenig gelebt haben?
Lintl: Vor kurzem starb bei uns ein Bewohner, der kurz nach seiner Pensionierung Krebs bekommen hatte. Er hat uns stolz Bilder von seinem Schrebergarten gezeigt, dort wollte er in der Rente sein Leben genießen und sich um alles kümmern, was er eben jahrelang nicht gemacht hatte. Und jetzt hatte ihn die Krankheit eingeholt. Er hat extrem gehadert damit, er hat nur ganz schwer loslassen können und ist auch ganz, ganz schwer gestorben.
Wann können Menschen erfüllt zurückblicken?
Lintl: Ich hatte vor kurzen eine Bewohnerin, die hat noch mit ihren 88 Jahren bis zum Schluss Yoga gemacht, solange sie das halt noch machen konnte. Sie hatte gesagt, „Was soll ich hier noch? Ich habe ein gutes Leben gehabt. Ich mag jetzt endlich gehen.“
Hilft im Sterben der Glaube?
Wossilus: Der Glaube bleibt bis zuletzt etwas sehr Persönliches, Privates. Manche wollen nicht darüber sprechen. Es gibt auch Schwerkranke, die nicht über den Tod sprechen wollen. Sie erzählen mir von schönen Urlauben und von ihren Enkelkindern. Bei Sterbenden erlebe ich die ganze Palette: Menschen, die sagen, „danach kommt gar nichts, es ist aus“ bis zu „das ist gut nach dem Tod, da bin ich aufgehoben“. Denen hilft der Glaube natürlich.
Welche Ängste haben Sterbende?
Wossilus: Neben der Angst vor Sterben und Tod gibt es auch die Angst vor dem, was danach kommt: Was kommt da an Strafe vielleicht in irgendeiner Weise auf mich zu? Ich hatte eine dement kranke Dame begleitet, die nicht mehr viel kommunizieren konnte. Ihre Tochter hatte mir erzählt, dass sie in einem Kloster groß geworden war, in dem sehr viel mit Angst gearbeitet wurde. Durch die Demenz wurde sie von ihrer angstbesetzten Kindheit eingeholt: Ich werde bestraft, jetzt kommt was Schlimmes auf mich zu.
Lintl: Dass Sterbende sagen „Warum holt mich der liebe Gott nicht endlich?“ höre ich relativ oft. Wir sprechen dann darüber und beten auch zusammen. Manche haben eine Bibel auf dem Tisch liegen und bitten darum, dass ich ihnen daraus vorlese.
"Aber ich bin mir sicher, dass es etwas gibt, was umfassend ist und mich hoffentlich in meinen letzten Stunden tragen wird."
Stephanie Wossilus
Hat sich ihr eigener Glaube durch ihre Arbeit im Hospiz verändert?
Wossilus: Ich hätte mich vorher als Agnostikerin bezeichnet. Im Rahmen der Hospizarbeit hat sich das verändert - zu einer gewissen Form von Glauben und Spiritualität. Ich kann gar nicht sagen, was dafür ausschlaggebend war, aber mit Menschen zu tun zu haben an deren Lebensende, das lässt einen natürlich nachdenken: Was kommt danach? Davor habe ich mir darüber keine Gedanken gemacht, ich habe gedacht, nach dem Tod kommt nichts mehr. Heute ist es ein tiefes Vertrauen, dass ich in ein großes Ganzes zurückkehre, aufgenommen werde in so etwas wie universelle Liebe oder wie man das bezeichnen will. Der eine sieht es als Gott, die andere lässt es einfach so stehen. Aber ich bin mir sicher, dass es etwas gibt, was umfassend ist und mich hoffentlich in meinen letzten Stunden tragen wird. Den Glauben, dass es nach dem Tod weitergeht, hatte ich vor der Hospizarbeit nicht.
Lintl: Ich glaube, dass es irgendwie weitergeht. Ob das jetzt mit Himmel und Hölle sein wird, sei einmal dahingestellt. Vor dem Tod habe ich keine Angst, aber vor dem Weg dorthin, vor dem Schmerz und vor dem loslassen müssen.
Der christliche Glaube kennt das Phänomen der Seele. Was passiert mit der Seele in den letzten Sekunden? Was lässt sich da beobachten und beschreiben?
Lintl: Oft ist es so, dass Sterbende die Arme heben und mit den Händen nach oben greifen. Man hat das Gefühl, dass jemand sie abholen kommt. Wenn jemand nicht mehr atmet und kein Puls mehr zu spüren ist, machen wir das Fenster auf, damit die Seele ausfliegen kann. Ich habe bei vielen Verstorbenen beobachtet, dass sie dann sehr entspannt da lagen.
Wossilus: Ich habe das Gefühl von einer Anwesenheit der Seele auch nach dem Tod – zumindest für eine bestimmte Zeit. Die Frage ist ja auch, wann der Tod wirklich eintritt, und wie sichtbar das dann auch ist. Das Sterben zum Tod ist ein Prozess, den man beobachten kann. Die Atemzüge setzen teilweise lange aus, dann kommt nochmal ein Atemzug, und dann ist es oft die Frage, wann war jetzt der Moment, wo der Mensch wirklich gestorben ist? Einmal bin ich kurz nachdem ein Freund gestorben war, in sein Sterbezimmer gekommen. Ich hatte das Gefühl, so ganz weg ist er noch nicht. Ich glaube die Seele macht sich mit dem Tod auf den Weg, aber ist eben irgendwie auch noch da. Aber das ist ein persönliches Gefühl, dass man so nicht greifen kann.
Wie haben sie von den Sterbenden gelernt für ihr Leben? Leben Sie bewusster?
Lintl: Ich bin demütiger geworden. Wenn ich nach meinem Dienst am Freitag aus dem Hospiz rausgehe, dann bin ich immer sehr froh, dass es mir und meiner Familie gut geht. Mir wird bewusst, dass man das Leben und jeden Augenblick wahrnehmen und genießen sollte. Und ich weiß, dass man die Dinge nicht aufschieben sollte auf später. Später ist dann irgendwann nicht mehr. Von Sterbenden lernt man auch dieses Dasein ohne Ansprüche zu stellen an den anderen. Die Sterbebegleitung ist erst einmal absichtslos, wir haben gelernt, ohne Erwartungen und Absichten einfach nur da zu sein. Doch hin und wieder ergeben sich tiefgehende Gespräche, dann bin ich sehr glücklich. Ich bin dann auch sehr berührt von dem Vertrauen, dass mir diese eigentlich fremden Menschen schenken.
Wossilus: Also, ich bin achtsamer geworden. Mir ist klar, dass das Einzige, was ich besitze, der jetzige Augenblick ist und eben nicht das, was vielleicht kommt oder schon war. Ich rege mich über viele Dinge nicht mehr so sehr auf, also wenn ich im Stau stehe oder wenn ich an der Kasse warten muss. Das regt mich nicht mehr auf, weil ich Sterbende erlebt habe, die zu mir gesagt haben, wie schön es doch wäre, noch einmal aufstehen, noch einmal einkaufen gehen und noch einmal einen Tag in die Arbeit. Dieser Perspektivwechsel führt bei mir zu Dankbarkeit. In der Begleitung Sterbender weitet sich der Blick von den Alltagssorgen auf das Leben als Ganzes.
Hat das Konsequenzen für Ihren Alltag?
Wossilus: Ich bin heute nicht mehr bereit, gewisse Dinge so hinzunehmen wie früher. Wenn ich der Meinung bin, ich möchte was ändern, sei es in meinem Leben oder in meinem Umfeld, dann geh ich die Dinge auch eher an, weil mir klar ist, es kann auch bald zu Ende sein.
Lintl: Ich bin intoleranter geworden gegen das allgegenwärtige Jammern und Klagen über die Politik, die Steuern, den Stau, die Rückenprobleme. Das kann ich oft nicht mehr abhaben, das vertrage ich überhaupt nicht mehr.
Sterben Männer anders als Frauen?
Wossilus: Sterben ist zutiefst individuell. Kein Mensch stirbt wie der andere. Bei uns war eine krebskranke Frau, die eine Therapie abgelehnt hatte, weil sie bereit war zu sterben. Sie sagte „Ich sterbe und bin damit fein.“ Sie hatte für sich alles geregelt: In der Wohnung waren auf den Möbeln Aufkleber verteilt, wer was bekommt. Ich dachte mir, wahrscheinlich wird die ganz ruhig gehen können. Aber es war dann genau das Gegenteil. Sie hat eine Woche lang gekämpft im Hospiz, und jeden Tag bin ich wieder hin und hab mir gedacht, es kann nicht sein, dass ich sie noch lebend antreffe, und sie war immer noch da. Sie hatte vielleicht doch nicht abgeschlossen.
Und die Männer?
Wossilus: Männer reden manchmal nicht gerne über Krankheit, Sterben und den Tod. Aber ich hatte auch welche, die drüber reden wollten, dass es bald zu Ende geht. Ich würde es deshalb nicht unbedingt an den Geschlechtern festmachen, es ist eine sehr individuelle Sache. So viele Menschen wie es gibt, so viel verschiedene Prozesse gibt es beim Sterben.
Wann ist für Sterbende der Zeitpunkt, dass sie den Tod akzeptieren?
Wossilus: Das ist unterschiedlich. Es gibt welche, die das wirklich erst in den letzten Tagen und Stunden akzeptieren können. Was ich bei allen Sterbenden feststelle, ist ein schrittweiser Rückzug von der Welt da draußen, dann von der Familie. Man spürt, dass der Mensch dann Stück für Stück in sich zurückgeht. Spätestens dann tritt eine Form von Akzeptanz ein, weil es unumkehrbar ist und das dem Sterbenden auch klar wird. Wenn die Menschen mal im Hospiz sind, dann ist ihnen ja klar, dass das die letzte Station ist.
Lintl: Nicht allen. Manche sagen, sie seien hier, um sich zu erholen, dann gingen sie wieder nach Hause. Eine Bewohnerin, die war Mitte 40, hatte gesagt: „Wenn ich herauskomme, möchte ich auch ehrenamtlich als Hospizhelferin arbeiten.“ Sie hatte die Wahrheit verdrängt, dass sie eigentlich sterbend ist. Dennoch glaube ich, dass Frauen ihre Situation eher akzeptieren können. Männer, die ihr Leben lang berufliche „Macher“ waren, fällt es unheimlich schwer, praktisch alles aus der Hand zu geben.
Wie können Angehörige Sterbende unterstützen?
Wossilus: Wir sagen Zugehörige, das müssen ja nicht unbedingt Verwandte sein, sondern auch Freunde oder Nachbarn. Ihnen hilft, wenn sie erklärt bekommen, was da gerade passiert. Wir agieren da nicht allein, sondern sind Teil eines Teams mit der sozialen Arbeit, den Pflegekräften und Ärzten. Als mein Vater im Sterben lag, wollte er noch mal den Geschmack von Bier haben. Ich bin dann losgezogen in dem Krankenhaus und habe ein alkoholfreies Bier geholt. Ich dachte mir: Oh Gott, bloß keinen Alkohol, und wusste aber nicht, dass er es eigentlich gar nicht mehr schlucken kann. Wenn ich damals gewusst hätte, dass es ihm nur um den Geschmack geht, hätte ich natürlich ein echtes Bier besorgt.
Lintl: Im stationären Bereich passiert es oft, dass Familienangehörige zu uns kommen und sagen „Ich kann nicht mehr“. Die nehmen wir auch mal in den Arm und trösten sie. Es ist schwierig, immer was zu sagen, oft ist man wirklich hilflos und sprachlos, gerade wenn es jüngere Menschen betrifft.
Wossilus: Da geht es um das Aushalten dieser untröstlichen Situation. Es kann eigentlich keinen Trost in dem Moment geben, wenn jemand stirbt, der einem sehr nahe ist. Wichtig ist dann, einfach da zu sein.
Ist die Stimmung im Hospiz immer traurig? Oder wird da auch gelacht?
Lintl: Es wird auch gelacht. Bei uns auf Station haben sich zur Zeit einige Bewohner zusammengefunden, die abends regelmäßig Rummikub spielen. Da ist manchmal eine ausgelassene Stimmung, es werden Witze gemacht. Und wenn im Fernseher Florian Silbereisen läuft oder ein Fußballspiel, dann ist das schon eine gewisse Normalität.
Wossilus: Sterben ist wie das Leben an sich, es ist alles da. Natürlich gibt es im Hospiz viel Trauer, viel Verzweiflung, viel Wut, viel Hadern. Aber es gibt eben auch Freude, Lachen und Trost.
Lintl: Und es wird auch gefeiert! Wir hatten erst kürzlich einen runden Geburtstag, eine Bewohnerin wollte es an ihrem 75. Noch einmal richtig krachen lassen. Da wurden Platten aufgefahren und Prosecco ausgeschenkt. Im Sommer wird im Garten regelmäßig gefeiert, manchmal auch auf der Dachterrasse.
Wossilus: Einmal im Jahr feiern wir das Sommerfest für die ehren- und hauptamtlichen Hospizhelfer. Wir fragen die Bewohner, wer mitfeiern möchte, dann wird das Bett in den Garten rausgeschoben und gemeinsam gefeiert. Manche wollen es ruhiger haben, aber es gibt auch Bewohner, die bewusst in einen Raum zur Straße ziehen wollen, weil sie sagen, da hören sie das Leben, da laufen Leute vorbei, da hört man Autos. Wer immer ein fröhlicher und aufgeschlossener Mensch war, legt das im Hospiz nicht ab. Eine Dame hatte ihre Bastelutensilien mitgebracht und am Ende die ganze Station dekoriert.
Man kann also auch persönliche Dinge mitbringen?
Lintl: Ein Sessel oder die eigene Bettwäsche zum Beispiel, das kommt schon öfters vor, oder Bilder. Man kann sein Zimmer persönlich gestalten.
Wie würden sie am liebsten sterben, wenn Sie es sich aussuchen könnten?
Lintl: Ich weiß es ehrlich gesagt nicht, ob ich lieber tot umfallen möchte oder mich auf den Tod vorbereiten möchte. Wenn ich jetzt tot umfallen würde, wäre es für mich besser, weil dann bin ich einfach weg. Ich habe in der Familie schon beides erlebt, langes Abschiednehmen - nicht einfach für die Angehörigen, aber auch nicht für die Person selbst. Einfach tot umfallen ist für die Person natürlich sehr gut, aber halt für die Angehörigen auch schwierig, weil vielleicht vieles nicht aufgearbeitet ist, vielleicht noch was unausgesprochen ist. Also wenn, dann möchte ich mich gerne gut begleiten lassen.
Wossilus: Einfach umfallen und tot sein oder nicht mehr aufwachen, das möchte ich nicht. Ich hätte gerne die Zeit, mich von den Menschen zu verabschieden, die mir wichtig sind. Natürlich wünsche auch ich mir, dass es möglich ist ohne zu starke Schmerzen. Eine Form von Schmerz wird es aber immer geben, körperlich, psychisch oder seelisch. Ansonsten habe ich jetzt weniger ein Setting im Kopf, sondern ich wünsche mir, dass ich das gut annehmen kann. Ich habe öfter mal die Phase, wo ich mir sage, na ja gut, wenn es jetzt vorbei wäre, war es trotzdem alles gut, so wie es war. Das will ich mir bewahren, sodass ich irgendwann sagen kann: Mensch, das war eine richtig tolle Zeit hier, und jetzt bin ich einfach gespannt, was kommt.
Patricia Lintl
arbeitet in München auf der Station im Hospiz an der Effnerstraße. Die Verwaltungsbeamtin ist außerdem im Bereich „Jugend trifft Hospiz“ engagiert.
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Stephanie Wossilus
ist in der Sterbebegleitung im häuslichen Bereich aktiv, produziert den Podcast „Sterbewelten – der Hospizpodcast“. Hauptberuflich ist sie Hauptkommissarin im Landeskriminalamt in München.
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13.11.2024
Silke Scheder/Helmut Frank