Ein Leben in Fotoalben und Erinnerungsstücken.

Ein Leben in Fotoalben und Erinnerungsstücken.

Bild: GettyImages

Trauer

Ein prall gefülltes Leben 

Eine Tochter betritt das Haus der toten Mutter. Anhand der Gegenstände werden Erinnerungen lebendig – Versatzstücke eines Lebens.  

Eine Frau im roten Cabrio, den Seidenschal um Kopf und Hals geschlungen. Sonnenbrille auf der Nase, Zigarette im Mund. Das Foto stammt aus dem Jahr 1994. Es ist eines von vielen Erinnerungsstücken, die übrig geblieben sind von der Frau auf dem Foto. Die Tochter weiß nicht, wohin mit all diesen Dingen. Seit die Mutter tot ist, scheinen sie ihren Sinn verloren zu haben. Sie steht im Haus der Mutter und erinnert sich: »Mit 70 hat sie sich noch ein rotes Cabrio gekauft«, sagt sie gedankenverloren. 

Die Frau heißt Emmy – ohne Nachnamen. Die Hinterbliebenen wünschen es so. Emmy starb mit 87 Jahren, als ihr Leben ausgelebt war. Die Fotos, die von ihr zurückbleiben, zeigen eine attraktive, selbstbewusste Frau. Sie hatte viele Hobbys. Das Haus bewahrt die Versatzstücke ihres Lebens. 

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An einem Ständer im Schlafzimmer hängt der Schmuck, den sie einst getragen hat. Für jeden Anlass, für jedes Kleid die passende Kette. Dort hat sie sich angezogen: Das Ankleidezimmer wirkt überladen – so groß ist die Zahl der täglichen Einkleidemöglichkeiten. Ein Fach »dicke Wollpullover«, ein anderes »leichte Baumwollpullover«, sortiert nach Farben. Unzählige Schuhe. Nach welchen Kriterien mag sie sich morgens angezogen haben? 

Dort der Schrank mit den Abendkleidern. »Das war ihr erstes Abendkleid«, sagt die Tochter. Emmy hat es behalten, all die Jahre, obwohl noch mindestens 30 andere Roben auf Ausgang warteten. »Meine Mutter hat es 1945 zum ersten Mal getragen, als meine Eltern zu einer Hochzeit eingeladen waren. 95 Mark hat sie dafür bezahlt.« Es ist ein langes Satinkleid, oben weiß, unten schwarz. Unter den Achseln ein Schweißfleck. Hat Emmy in dem Kleid getanzt? Ein Foto zeigt sie im Abendkleid, ebenmäßiges Gesicht, auffallender Charme. Das Kleid mochte im Rhythmus ihres Gangs geschwungen, der Satin geraschelt haben. Emmy lachend. Wie mochte ihr Lachen geklungen haben? 

Fotos lassen es erahnen. Emmy jung und begehrenswert. Emmy inmitten einer Gruppe von Männern. Emmy auf einem Ausflug. Jahre später wird sich der Bräutigam, auf dessen Hochzeit sie besagtes Kleid zum ersten Mal trug, an sie erinnern. Da sind beide schon verwitwet. »Er machte ihr Avancen, doch sie ließ ihn abblitzen«, berichtet die Tochter. Sie erzählt die Mythen der Familie in sachlichem Ton. 

Emmy steht für eine Generation, die an den Herausforderungen des Lebens wuchs. Zwischen den Weltkriegen geboren. Im Jahr 1924, Emmys Geburtsjahr, verlassen die letzten französischen Soldaten das besetzte Ruhrgebiet. Trotz der Wirren des Kriegs, trotz Tod und Zerstörung sind die Menschen nicht unterzukriegen. Aus den Trümmern ihres Lebens bauen sie Familiendynastien auf. 

Emmy heiratete 1943, mitten im Krieg. 1946 wurde ihr Sohn, 1949 ihre Tochter geboren. Der Ehemann: Bauunternehmer. Es geht ihnen viel besser als all den anderen, die um ihren Lebensunterhalt kämpfen müssen. Eine Wirtschaftswunder-Familie.  

Dennoch geht die Familiensaga, dass Emmy in den 1980er-Jahren Dosen gefüllt mit Schweineschmalz und Kernseife im Keller bewahrte. Emmys Schwester Jenny sagt: »Man hat uns die Jugend gestohlen.« Emmy sagte dergleichen nicht: Sie sammelte und umgab sich mit schönen Dingen. Sie ersteigerte Fabergé-Eier und Jugendstil-Möbel bei Auktionen, bestellte Miniaturvasen aus viktorianischer Zeit oder Schalen chinesischer Dynastien bei einer Münchner Porzellanmanufaktur. Sie sammelte Enten, Elefanten, Briefmarken, Münzen, Steine aus aller Welt. »Es gibt kaum etwas, was meine Mutter nicht gesammelt hat«, sagt die Tochter.  

»Ich höre nachts die Lokomotiven pfeifen, sehnsüchtig schreit die Ferne, und ich drehe mich im Bett herum und denke: Reisen.«

Die Zeilen von Kurt Tucholsky sind ans Regal gepinnt

Überall im Haus finden sich die Objekte. »Sammler sind glückliche Menschen.« Der Spruch steht in einem ihrer Vitrinenschränke.  

Das ganze Haus wirkt wie ein Museum, das die Wohnkultur vergangener Jahrzehnte konserviert. In ihrem Büro dominieren Bildbände und Fotoalben. Auf ihrer Schreibunterlage liegt ein Stift mit Namenszug der Besitzerin. Dort saß Emmy, schrieb Briefe und beschriftete ihre Alben. Erst nachdem ihr Mann gestorben war, Emmy war 54 Jahre alt, begann sie zu reisen. »Ich höre nachts die Lokomotiven pfeifen, sehnsüchtig schreit die Ferne, und ich drehe mich im Bett herum und denke: Reisen.« Die Zeilen von Kurt Tucholsky sind ans Regal gepinnt. 

Die Fotoalben ihrer Reiseberichte stapeln sich. Für jedes Land ein eigenes Buch, mehrere Urlaube pro Jahr und das 20 Jahre lang. Ihr erster Ausflug führte sie 1979 nach Marokko. Für jede Reise schrieb sie einen »Packplan«. Darauf standen auch Nadel, Faden, Schnürsenkel, Knopf. Einmal ließ sie sich ein Leinentuch nähen, mit Kordel, »wenn es dreckig wird«, soll Emmy gesagt haben. Sie war für alles gerüstet.  

Emmy klebt in die Alben: Landkarte, Buchungsbestätigung, Reiseverlauf, Flugschein. Später lässt sie Ansichtskarten, Hotelprospekte und Menükarten folgen. Ein Foto zeigt sie mit Kamel in Marrakesch. Sie schreibt darunter: »Wann wird man schon mal von einem Kamel geküsst?« Abhandlungen über die maghrebinische Geschichte folgen. Marokko galt als Kernland des islamischen Okzidents. 

»Acht Wochen vor Reiseantritt fing meine Mutter an sich vorzubereiten. Vier Wochen danach war sie immer noch mit dem Einkleben von Fotos beschäftigt.« Zwei Merians und zwei Polyglotts soll sie pro Reiseland verbraucht haben, »damit man von beiden Seiten ausschneiden konnte«. 1979 fliegt sie nach Istanbul, 1981 folgen Kenia, Rhodos, Lissabon, Amsterdam und Prag. 1983: Singapur, Taipeh, Tokio, Kyoto, Macao, Bangkok und Madeira.  

Fünf Alben verschlingt ihr Amerika-Aufenthalt 1984. Sie dokumentiert die Flugroute: acht Staaten in zehn Tagen, 6520 Flugkilometer, Abfahrts- und Ankunftszeit: 17 Stunden, reine Flugzeit: neun Stunden, zehn Minuten. Erst in den 1990er-Jahren – Emmy ist über 75 Jahre alt – werden die Reisen weniger rastlos. Es treibt sie mehr die Erholung denn die Neugier.  

Emmy war eine der ersten Frauen in Bayern, die den Jagdschein machten. Das war 1958. Emmy rauchte Zigarren, wenn ihr danach war. Oder legte dem allzu beamtenmäßigen Förster ein selbst geschossenes Reh vor die Tür mit der Frage: Haben wir Wilderer im Revier? »Sie hat einfach gesagt, wo es langgeht«, erinnert sich ihre Tochter. »Ihr ist einfach alles geglückt, was sie angefasst hat.« 

Ein Foto vom roten Cabrio hängt in Emmys Büro: »In der Radarfalle. Je oller, desto toller – geblitzt am Kindinger Berg«, schrieb sie darunter. Heuer wäre sie 100 Jahre alt geworden. 

15.10.2024
Gabriele Ingenthron

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